Von Merseburg nach Berlin

Von Merseburg nach Berlin. 25 Jahre Wiedervereinigung der Bestände des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz. Eine Zeitzeugin berichtet

Im Zuge der Wiedervereinigung gelangte auch das preußische Kulturgut wieder nach Berlin. An die Vorbereitung und Organisation der Rückführung der Archivalien aus Merseburg in den Berliner Westhafen erinnert sich die ehemalige Referentin für alte Reposituren und Magazinbetrieb sowie Beauftragte des GStA PK für den Aktentransport Waltraud Elstner.

Der folgende Text wurde zuerst abgedruckt in: Ulrike Höroldt und Paul Marcus (Hg.): Preußens Akten sind zurück. 25 Jahre Rückkehr der Archivalien des Geheimen Staatsarchivs aus Merseburg nach Berlin, Berlin 2019, S. 15-19.

Sehr geehrter Herr Präsident,
werte Anwesende,
liebes Geheimes Staatsarchiv

Rückblickend auf die Zeit des Umzugs des Archivs von Merseburg nach Dahlem vor 25 Jahren muss erwähnt werden, dass viele Mitarbeiter mit ihrem Einsatz zum Erfolg dieses Vorhabens beigetragen haben. Die damals „junge Garde“ hat sofort die Ärmel hochgekrempelt und tatkräftig zugepackt. Die älteren Kollegen – heute im verdienten Ruhestand, halfen, wo immer sie auch eingesetzt wurden.

Unglaubliches haben die Magaziner geleistet, unter schwierigsten Verhältnissen transportierten sie tagtäglich Tonnen von Akten.

Einige Kolleginnen und Kollegen leben leider nicht mehr. Sie haben sich damals engagiert, sich eingebracht und zum Gelingen der Rückführung der historisch wertvollen Akten beigetragen. Das soll nicht vergessen sein.

Bevor der erste Waggon am 13. April 1993 den Westhafen erreichte, herrschte schon lange Aufbruchstimmung in Dahlem. In Merseburg sah man den großen Veränderungen mit gemischten Gefühlen entgegen, denn die Wende hatte alle Lebensbereiche erfasst und zu vielen Unsicherheiten geführt.

Schon im Dezember 1989 hatte Herr Professor Vogel, der von allen Mitarbeitern des Archivs geschätzte Direktor, Verbindung mit den Merseburger Kollegen aufgenommen und gemeinsam wurden mit der Hauptverwaltung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz im engen Miteinander die notwendigen Schritte zur Rückführung der Archivbestände eingeleitet. Dabei ging es u. a. um die Finanzierung, die Unterbringung – also die Magazinstandorte und Regalanlagen – und v. a. um Personalfragen.

In dieser unruhigen Zeit, in der oft die Meinung vorherrschte, dass der Westen dem Osten alles wegnimmt, was wertvoll ist, war hier glücklicherweise die Situation anders. Die kriegsbedingt in den Salzwergwerken in Schönebeck und Staßfurt bei Magdeburg ausgelagerten Akten, Urkunden und Karten, die nach dem 2. Weltkrieg nach vielen Verhandlungen der westlichen Alliierten und der Sowjetischen Militäradministration schließlich in Merseburg eingelagert wurden, kamen nun nach Hause zurück, an ihren ursprünglichen Lagerungsort.

Die Bewältigung der umfangreichen Aufgaben war nur im Miteinander durchführbar. Darüber war man sich in Dahlem einig. Von Anfang an stand dabei immer der Mensch im Mittelpunkt. Jeder (na sagen wir fast jeder) war bereit, sein Bestes zu geben.

Seit 1990/1991 arbeiteten schon einige Archivarinnen aus den neuen Bundesländern in Dahlem. Sie bildeten gewissermaßen die Vorhut, bevor die – etwas leger gesagt – „geballte Wucht“ von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus Merseburg kam. Die Dahlemer Kollegen konnten somit „sanft“ an die Ostmentalität“ herangeführt werden. Sie stellten bald fest: So schlecht sind die neuen Mitarbeiterinnen gar nicht. Fachlich gut ausgebildet verstehen sie ihr Handwerk, sind sehr kollegial und lockerer im Umgang als man das bisher gewöhnt war. Man hörte öfters Lachen im Hause. Die neuen Kollegen wurden in Dahlem mit offenen Armen empfangen, erhielten Hilfe und Unterstützung auf allen Gebieten. Zurückhaltung gab es nur vereinzelt.

Als später nach und nach die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus Merseburg kamen, war die Symbiose zwischen West und Ost fast schon hergestellt. Wesentlich dazu beigetragen hatte die gleichberechtigte Behandlung der Mitarbeiter, was u. a. in der gleichen Bezahlung seinen deutlichsten Ausdruck fand. „Wer die gleiche Arbeit erledigt, soll auch die gleichen Bezüge bekommen,“ so Professor Vogel.

Kleinere Probleme, die es natürlich gab, konnten im Miteinander geklärt werden. Schwieriger gestaltete sich zunächst die Frage der Bestandsgliederung. Für die Merseburger Bestände, die jetzt über zwei Drittel des Gesamtbestandes in Dahlem ausmachten, existierte eine Gliederung nach sechs tektonischen Gruppen mit weiteren Untergliederungen. In Dahlem gab es 20 Hauptabteilungen. Pro und Kontra der verschiedenen Gliederungen wurden lange diskutiert, bis man sich entschloss, die Merseburger Bestände in die Hauptabteilungen und innerhalb dieser in die ehemalige Repositurenfolge des Archivs einzugliedern. Der historisch gewachsene Bestandsaufbau des alten Geheimen Staatsarchivs wurde damit wiederhergestellt.

Daraus ergaben sich aber viele Probleme, u. a. für die Benutzung, hinsichtlich der Findmittel und vor allem auch für die Logistik beim Transport. Umfangreiche Aufgaben ergaben sich ebenfalls für die Bibliothekare. Die Zusammenführung der Buchbestände sowie die Benutzbarkeit der Kataloge erforderten viel Kraft und großen Einsatz.

Der Bereich der Verwaltung im Geheimen Staatsarchiv hatte ein immenses Pensum an Aufgaben für den reibungslosen Transport zu bewältigen. Vorrangig für Packarbeiten wurden ABM-Kräfte eingestellt. Aber ohne die Archivare ging nichts. In Merseburg mussten Bestände überprüft werden, um sie möglichst unkompliziert in die Dahlemer Gliederung einzuordnen. Nummernsysteme und Transportlisten wurden erarbeitet. Das Packen von Aktenpaketen, die Zuordnung von Findbüchern und Karteien sowie die Dienst- und Benutzungsregistratur erforderten jeden Tag von früh bis spät vollen Einsatz und konzentriertes Arbeiten.

Es gab auch kleine außergewöhnliche Zwischenfälle. Als eine Kollegin eine Nachtschicht einlegte, um mit einem Mitarbeiter Pakete zu packen, damit der nächste Eisenbahnwaggon rechtzeitig auf die Reise gehen konnte, riefen sehr aufmerksame Bürger, die Licht in den Magazinen brennen sahen, die Polizei. Glücklicherweise konnte mit dieser das „Problem“ unkompliziert geklärt werden.

Nicht nur beim Packen und Beladen standen alle bereit für den Transport von 25 000 lfm Archivgut, auch bei der Suche nach einem Waggon war großer Spürsinn gefragt. Insgesamt wurden 58 Eisenbahnwaggons auf die Reise geschickt, einer traf nicht in Berlin ein. Die Bahn war nicht auskunftsfähig. Es begann eine Suchaktion – dienstlich und privat. Auf einem Verschiebebahnhof wurde der Waggon schließlich entdeckt, aber nicht von der Bahn. Mit großem Aufwand gelangte der Waggon dann in den Westhafen. In ihm befanden sich Akten der ältesten Archivbestände.

Die eigentliche körperliche Schwerstarbeit setzte dann im Westhafen ein. Was damals durchgeführt wurde, ist noch heute unfassbar.

Der Westhafen war zu dieser Zeit eine einzige Baustelle. Von früh bis abends ratterten die Presslufthämmer; Dreck und Staub, kein Wasser, kein elektrisches Licht, keine Fenster, kein Aufzug, gefährliche Schächte von der obersten Etage bis in den Keller und besonders ärgerlich – keine Toiletten. Die Arbeitskleidung der Mitarbeiter bestand aus Helm-, Ohr- und Mundschutz, Stiefeln, Handschuhen und Wattejacken. Die Kollegen waren mit Taschenlampen ausgerüstet, später mit Grubenlampen. Das war der Anfang. Unter diesen Umständen haben besonders die Magazinkollegen enorme Leistungen vollbracht; haben Paletten, Kisten, Pakete geschleppt, das Leergut für die nächsten Waggons auf den Rückweg geschickt, standen unter Zeitdruck und waren oft am Ende ihrer Kräfte.

Vom ersten Tag an standen die Akten in Berlin zur Benutzung zur Verfügung. Eine ganz erstaunliche Leistung. In Merseburg lief die Benutzung bis zum Abtransport des jeweiligen Bestandes, in Dahlem dann sofort nach der Ankunft des Archivgutes im Westhafen.

Auch in der Archivstraße in Dahlem ging es turbulent zu. Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen hatten sich mit den Merseburger Beständen vertraut zu machen, denn die Benutzer strömten in Scharen. Eine neue Struktur des Hauses war mit neuen Mitarbeitern umzusetzen, neue Arbeitsräume galt es zu schaffen und dafür mussten u. a. Container aufgestellt werden.

Die wissenschaftlichen Archivare in Dahlem, die auf wissenschaftlichem Gebiet große Leistungen erreicht hatten, mussten sich nun zunächst vorrangig an die praktischen Seiten der Archivarbeit herantasten und sogar den preußischen Archivknoten zum Verpacken erlernen.

Herr Professor Vogel hatte den Eindruck, „dass die Ostkollegen die preußischen Archivtraditionen viel stärker verinnerlicht hatten“ als die Westkollegen. Der jetzt übernommene Aktenschatz war in der DDR sehr sorgfältig und mit archivarischer Akribie behandelt worden.

Die Rückführung der Bestände ist eine der schwierigsten Aufgaben in der Geschichte des Geheimen Staatsarchivs gewesen. Sie wurde erfolgreich durchgeführt, weil West und Ost Hand in Hand gearbeitet haben.

Professor Knopp, der damalige Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz meinte, dass das Geheime Staatsarchiv die einzige Einrichtung in der Stiftung war, in der die Vereinigung so reibungslos verlief. Ein größeres Lob für die geleistete Arbeit konnte es für uns nicht geben.

Es bleibt nur zu hoffen, dass ein Neubau in absehbarer Zeit die wieder vereinigten Archivbestände aufnehmen kann.

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