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„Schreibe mir oft – je länger je lieber!“ – Liebesbriefe eines preußischen Landrats
News vom 09.10.2025
Fernbeziehungen werden gern als ungeliebte Nebenwirkung unserer modernen globalisierten Arbeitswelt betrachtet. Nicht selten ist es für den Traumjob nötig, weite Distanzen zum oder zur Liebsten in Kauf zu nehmen. Doch in Wahrheit trennten immer schon weite Wege manches junge Paar, so dass der Liebe nur mit Feder auf Papier Ausdruck verliehen werden konnte. In einer kunstvollen Holzschatulle wurden nun Hunderte von Liebesbriefen aus einer solchen ‚Fernbeziehung‘ des ausgehenden 19. Jahrhunderts dem Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz geschenkt.

„…Da fällt gerade der letzte Sonnenstrahl vom Abendhimmel durch die hellgrünen Baumblätter vor meinem Fenster quer über meinen Schreibtisch auf den Briefbogen, so goldig und rosenroth, wie die Zukunft vor mir liegt, nachdem Du, meine Herzenssonne, alle Wolken vom Zukunftshimmel verscheucht hast. Ach bitte, bitte, bleib Du meine Sonne, die mir immer auf’s Neue den Lebensweg erleuchtet, ohne die ich nicht mehr zu leben und zu athmen vermag. Wie reizend denke ich es mir, wenn Du erst meine kleine Landräthin bist, und wir zusammen den Kreis bereisen um uns vom Wohl und Wehe unserer getreuen Unterthanen zu überzeugen…“
So schrieb es der preußische Regierungsassessor Theodor Parisius am 23. April 1890 aus Kassel an seine „süße, kleine Martha“, die Tochter des Ziegelfabrikanten Ferdinand Schütte in Heisterholz bei Minden. Kurz zuvor hatten sich beide verlobt. Von der innigen Liebe zwischen Martha und Theodor zeugen Briefe der Jahre 1890 bis 1891, die zwischen Heisterholz und zunächst Kassel, später dem oberschlesischen Zabrze förmlich hin- und herflogen. Die zuletzt etwa 800 km weite Strecke legten die Briefe damals tatsächlich über Nacht zurück!
Liebesbriefe des Familienarchivs Schütte-Parisius © GStA PK/Christine Ziegler
Warum nun ihre Fernbeziehung? Darüber klärt die Personalakte zu Theodor Parisius auf, die sein Dienstherr, der preußische Innenminister, geführt hat. Der 1859 in der späteren preußischen Provinz Hannover als Sohn eines Landesbauinspektors geborene Theodor studierte in Straßburg und Göttingen Jura und Staatswissenschaften, um anschließend als Referendar die Verwaltungslaufbahn einzuschlagen. 1887 legte er die große Staatsprüfung ab und wurde zum Assessor bei der Regierung zu Kassel ernannt. Im Dezember 1890 wurde er mit der kommissarischen Verwaltung des Landratsamtes im Kreis Zabrze in Oberschlesien betraut – fern seiner Heimat, wie es in der preußischen Verwaltung üblich war. Er scheint sich schnell bewährt zu haben, wurde ihm dieses Amt doch im August 1891 endgültig übertragen und Theodor zum Landrat ernannt.
Wann und wo Theodor die neun Jahre jüngere Martha kennengelernt hat, liegt im Dunklen. Könnte Theodors Vater, der Bauinspektor Parisius Kontakte zum Ziegelfabrikanten Schütte unterhalten haben? Schließlich interessierte sich auch Theodor für Wohnungspolitik, hatte doch 1887 seine Prüfungsarbeit zum Assessor das Thema „Die Berliner Mietsteuer, ihre historische Entwicklung, rechtliche Natur und die Art ihrer Erhebung“.
Die überlieferten Briefe des Liebespaars setzen erst zur Zeit der Verlobung ein. In einem Brief an ihre Eltern schreibt Martha, dass sie schon jahrelang in Theodor verliebt gewesen sei. Doch auch nach der Verlobung mussten sich beide noch weiter gedulden und aus der Ferne viele Briefe schreiben, bis Theodor an seinem neuen Dienstort in Zabrze Fuß fassen und in eine geeignete Wohnung umziehen konnte. Etwa zeitgleich mit seiner Ernennung zum Landrat fand im August 1891 auch die Hochzeit statt und Martha zog zu Theodor – von nun an werden Briefe zwischen ihnen selten.
Aus weiteren Familienbriefen und der Personalakte Theodors lässt sich die Geschichte des Ehepaares aber vervollständigen: Das junge Glück schien perfekt, als im September 1892 eine Tochter das Licht der Welt erblickte, die ebenfalls den Namen Martha erhielt - und welche die Großmutter der heutigen Schenkenden ist. Doch gleichzeitig mischt sich in die Korrespondenzen ein besorgniserregender Ton: Spätfolgen einer Lungenentzündung, die sich Theodor schon im Dezember 1891 auf einer Schlittenfahrt bei einer Dienstreise zugezogen hatte, zwangen ihn, krankheitsbedingt um Versetzung in ein klimatisch günstigeres Landratsamt im Südwesten Preußens zu bitten. Im Innenministerium hat man jedoch Zweifel an seiner Dienstfähigkeit, seine Wiederherstellung wird in den Akten als „kaum wahrscheinlich“ bezeichnet. Daher sollte Theodor im Herbst 1892 nur noch im Rang eines Hilfsarbeiters nach Wiesbaden versetzt werden. Noch bevor er dieses Amt dort antreten konnte, bat er jedoch um einen dreimonatigen Erholungsurlaub. Schon wenige Wochen später, im November 1892 brach für Martha eine Welt zusammen, als Theodor an einem „Blutsturz“ starb.
Martha zog mit ihrer Tochter und wohl auch mit ihren vielen Liebesbriefen im Gepäck wieder zurück zu Ihrer Familie. Ihr Vater hatte 1873 eine der größten Ziegeleifabriken Preußens begründet, die noch heute besteht. Während die Ziegelei jedoch inzwischen nicht mehr im Familienbesitz ist, wurden die Liebesbriefe der Vorfahren bis heute wie ein Schatz gehütet, wohl verwahrt in der geschnitzten Holzschatulle in deren innere Stoffbespannung – womöglich noch von Martha? – das Sprüchlein „Schreibe mir oft – je länger je lieber!“ gestickt ist. Nicht ohne Grund: wiederholt richteten die Liebenden im Briefwechsel diese Worte aneinander.
Durch die Erforschung Ihrer Familiengeschichte stieß die Urenkelin von Martha und Theodor, Dr. Renate Nöller, schließlich auf das Geheime Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz. Warum? Besagte Personalakten Ihres Urgroßvaters Theodor führten sie hierher, worin sie über sein Examen als Regierungsreferendar und seine Tätigkeit als Landrat in Zabrze nachlesen konnte. So reifte schließlich in der Familie der Entschluss, die Liebesbriefe ihrer Vorfahren ebenfalls diesem Archiv anzuvertrauen und damit auch Theodors privates Leben der Nachwelt zugänglich zu machen.
Nicht nur die zunehmende Erforschung von Gefühlswelten, z.B. in Projekten wie dem Liebesbriefarchiv, auch die Forschung über die Geschichte der Mobilität, der Kommunikation und sogar die Verwaltungsgeschichte können in diesem Briefwechsel reichlich Nahrung finden. Wo findet sich schon einmal die persönliche Sicht eines preußischen Verwaltungsbeamten auf sein tägliches Handeln so unverstellt, wie in der Korrespondenz mit der ihm vertrautesten Person, seiner Verlobten? Hin und wieder klingt dabei an, dass auch der Weg zum Traumjob als Landrat für Theodor gelegentlich steinig war: „In Folge einer […] geradezu albernen Marotte meines [Regierungs-]Präsidenten, gegen die ich heute während der Sitzung in beinahe zweistündiger Discussion – leider vergeblich – plaidierte, bin ich wieder, in Anlaß dieses allmählich mir wiederwärtigen Gesetzentwurfes, von neuem zu einer ebenso complicirten und weitläufigen, als m. E. unnützen und vergeblichen Arbeit verurteilt, die mich wenigstens 4 – 5 Tage unausgesetzt an den Arbeitstisch fesselt […]“. Es wurde nicht einfacher, wenn die Liebe ihn ablenkte: „Mit dem Arbeiten wollte es heute gar nicht gehen, die Akten kamen mir fast unheimlich grau vor,
‚Und der Fleiß blieb ohne Segen / lustig flogen die Gedanken /
Von den Lettern in die Weite. / Statt Novella hundertachtzehn, /
Schaut ein blondgelocktes Mägdlein / Grüßend aus dem corpus juris.‘*
Ich sah daher bald das Vergebliche meiner Bemühungen ein, und beschloß, die Zeit besser dazu zu verwenden, etwas länger mit besagtem Mägdlein zu plaudern.“
Neben dem Briefwechsel von Martha und Theodor sind in dem kleinen Familienarchiv noch weitere Entdeckungen zu machen. So auch eine Sammlung von Flugschriften aus der Zeit der Volksabstimmung über die territoriale Zugehörigkeit Oberschlesiens 1921, zu der Marthas Tochter ihren Geburtsort Zabrze – zu dieser Zeit „Hindenburg O.S.“ genannt - noch einmal aufsuchte.
Ein herzlicher Dank gilt den Nachkommen von Martha und Theodor Parisius, die sich zur Schenkung dieser Briefe entschließen konnten!
*Hier zitierte Theodor aus J. V. von Scheffel: Der Trompeter von Säkkingen, 2. Stück.