Das längste Schriftzeugnis im GStA PK

News vom 17.05.2023

Das GStA PK präsentierte kürzlich ein Schriftstück, das zu den längsten in einem deutschen Archiv gehören dürfte. Es handelt sich um eine 711 Jahre alte gerollte Pergamenturkunde; wird sie ausgerollt, misst sie nicht weniger als 25 Meter. Mit dieser Urkunde, die zu den Zimelien des Archivs gehört, beschäftigt sich gegenwärtig ein Stipendiat am GStA PK im Rahmen seiner Dissertation.

Rotulus
© GStA PK / Vinia Rutkowski

© GStA PK / Christine Ziegler

Mitarbeiter*innen des Geheimes Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz sowie geladene Student*innen und Dozent*innen der mediävistischen Lehrstühle Berlins konnten sich am Nachmittag des 14. April am Anblick einer 25-Meter langen Pergamentrolle erfreuen, die die Restauratorinnen im Forschungssaal des GStA PK ausrollten. Dazu hielt der Historiker Patryk Maćkowiak, Doktorand am Lehrstuhl für Geschichte des Mittelalters an der Adam-Mickiewicz-Universität Posen, einen Vortrag über das besondere Schriftstück. 

Herr Maćkowiak ist aktuell Stipendiat am GStA PK, kennt diese Quelle wie kein Zweiter und erläuterte den Anwesenden anschaulich die Entstehung, den Kontext und die Bedeutung des Rotulus.

© GStA PK / Vinia Rutkowski 

Patryk Maćkowiak wurde im Rahmen des Internationalen Forschungsstipendiums der Stiftung Preußischer Kulturbesitz Ende des letzten Jahres für ein Doktorandenstipendium am Geheimen Staatsarchiv PK ausgewählt. Er bereitet hier seine Dissertation vor, in der er sich ausführlich mit dem Inquisitionsprozess der Kurie gegen den Deutschen Orden im Jahr 1310 beschäftigen wird:

Das historische Territorium Livland (nahezu identisch mit den heutigen Staaten Lettland und Estland) war im Spätmittelalter ein Konglomerat von unterschiedlichen Landesherrschaften: des Deutschen Ordens, des Erzbischofs von Riga, der Bischöfe von Dorpat, Ösel und Kurland sowie des Königs von Dänemark. 

Ende des 13. Jahrhunderts kam es in diesem politischen Gebilde zu Spannungen zwischen den verschiedenen Akteuren, insbesondere zwischen dem Erzbischof von Riga und dem Deutschen Orden, die jeweils die Hegemonie in Livland anstrebten. Der Konflikt kulminierte in Klagen des Rigaer Erzbischofs, der Stadt Riga und des Bischofs von Ösel beim Papst in Avignon. Stadt und Bischöfe warfen dem Deutschen Orden schwere Vergehen vor. In insgesamt 230 Klagepunkten wurde dem Deutschen Orden unter anderem vorgeworfen, im Jahr 1308 in Danzig ein großes Massaker verübt zu haben. 

„Diese schwerwiegenden Anschuldigungen“, erläuterte Maćkowiak, „wurden später in eine Bulle des Papstes Clemens V. aufgenommen, der im Jahr 1310 Richter ernannte, um den Fall zu untersuchen.“ Der so angestoßene Inquisitionsprozess stellte eine ernsthafte Bedrohung für den Deutschen Orden dar; immerhin wurde zur etwa gleichen Zeit der Templerorden wegen eines ähnlichen Prozesses aufgelöst. 

Im Falle des Deutschen Ordens entsandte die Kurie mit Franciscus de Moliano einen Inquisitor nach Riga, der dort im Jahr 1312 die Klagen der Ordensgegner auf ihre Rechtmäßigkeit prüfen sollte. „Dazu befragte er die Zeugen, deren Befragungen in diesem Protokoll festgehalten sind“ so Mackowiak, während er auf den langen Rotulus vor sich zeigte. 

Inhaltlich reichen die überlieferten Aussagen von 24 Zeugen weit in die komplexe und ethnisch vielfältige Geschichte Livlands und berühren ganz unterschiedlichste Themen; von Flussüberschwemmungen bis hin zu grausamen Mordvorwürfen. 

© GStA PK / Vinia Rutkowski 

„Der vorgelegte Zeugenvernehmungsbericht ist ein typisches notarielles Instrument der spätmittelalterlichen Prozessprotokolle nach kanonischem Recht.“ Vom 12. bis in das 14. Jahrhundert war der Rotulus, oder auch Buchrolle, eine durchaus übliche Form „für gerichtliche oder administrative Zwecke.“ 

Bei dem präsentierten Exemplar handelt es sich trotz der beachtlichen Länge nur um ein Fragment. Erhalten sind insgesamt acht Rollenteile, die aus 34 Pergamentstücken bestehen, „die 23-24 Zentimeter breit und unterschiedlich lang sind. Zusammen bilden sie eine unvollständige, von oben nach unten abgewickelte Rolle mit einer Gesamtlänge von etwa 25 Metern.“ 

Geschrieben wurde der Bericht über die Zeugenvernehmung von nur einem Schreiber und an jedem Übergang von einem zum nächsten Pergamentstück befinden sich zwei notarielle Zeichen von Notaren, deren Identitäten (noch) unbekannt sind.

So beeindruckend diese Zeugensammlung auch gewesen sein mag und noch heute ist, lässt Maćkowiak die Anwesenden wissen, dass der Deutsche Orden doch nicht verurteilt worden ist: „Nicht nur ein erfolgreicher persönlicher Besuch des Hochmeisters Karl von Trier am päpstlichen Hof, sondern auch eine Bestechung des Berufungsrichters ermöglichte es dem Deutschen Orden, einer Verurteilung zu entgehen.“

Als Herr Maćkowiak den Rotulus vorab zur Einsichtnahme bestellte, löste er damit einen im GStA PK seit knapp drei Jahren etablierten Prozess aus. 

Der sogenannte Urkunden-on-demand-Workflow ist ein Verfahren, durch welches nachgefragte Pergamentschriftstücke geschont und gleichzeitig genutzt werden können: Jedes bestellte Pergamentschriftstück wird zunächst gereinigt und plan gelegt, dann vollständig digitalisiert (Vorder- und Rückseiten) und anschließend fachgerecht und möglichst stoßfest verpackt. 

Den Bestellenden wird schließlich das Digitalisat zur Verfügung gestellt. Wenn erforderlich, können sie auch das Original im Lesesaal einsehen.

Im Fall des Rotulus gestaltete sich insbesondere die Digitalisierung als aufwändig, da die gerollten Häute in vielen einzelnen Abschnitten immer wieder neu befestigt, ausgeleuchtet und fotografiert werden mussten – denn plangelegt wurde das 25 Meter lange Schriftstück selbstverständlich nicht. 

Die acht Einzelteile der Rolle wurden anschließend einzeln in säurefreies Papier gerollt und gemeinsam in einem säurefreien Karton verstaut.
 

Ab sofort steht der Rotulus (XX. HA, Perg.-Urkk., L. S. 41, Nr.7) der Nutzung auch online zur Verfügung.

© GStA PK / Vinia Rutkowski