Der kurfürstlichen Thesendruck
Der Thesendruck im kurfürstlichen Archiv
Im Geheimen Staatsarchiv befindet sich ein berühmtes Exemplar der 95 Thesen. Es handelt sich um den 1517/18 entstandenen Druck aus der Werkstadt Jacob Thanners. Manche meinen, es handele sich dabei um den Erstdruck.
Der folgende Text wurde zuerst abgedruckt in: Mathis Leibetseder (Hg.): Kreuzwege. Die Hohenzollern und die Konfessionen 1517-1740, Berlin 2017, S. 132-135.
Pünktlich zum 500. Jubiläum der 95 Thesen ist die Debatte über die Form ihrer Veröffentlichung wieder aufgeflammt. Dabei galt es nach einem Aufsatz von Erwin Iserloh (1) jahrzehntelang als ausgemachte Sache, dass am 31. Oktober 1517 die Thesen in Wittenberg nicht an die Tür der Schlosskirche genagelt wurden. Doch nun mehren sich wieder die Zweifel, ob dies nicht doch der Fall war; so plädierte Martin Treu jüngst dafür, dass die Thesen am 31. Oktober 1517 nicht nur bereits gedruckt vorlagen, sondern auch, den Statuten der Wittenberger Universität entsprechend, an den Türen der Kirchen dieser Stadt befestigt wurden. Zudem bringt Treu als Urdruck jene Auflage ins Spiel, welche in der Leipziger Werkstatt Jacob Thanners entstand (2). Zwei weitere Ausgaben erschienen 1518 in Nürnberg und Basel, wobei die eigentliche Rezeptions- und Erfolgsgeschichte erst mit der deutschsprachigen Ausgabe unter dem Titel Sermon von Ablass und Gnade im März 1518 begann, welche 23 Ausgaben durchlief. Bedenkt man Übersetzungen in andere Sprachen und die damals üblichen Auflagenhöhen, so kamen innerhalb weniger Jahre rund 25.000 Exemplare der Thesen auf den Markt (2).
Jacob Thanners meist auf die Jahreswende 1517/18 datierter (bekannter) Erstdruck der Thesen erschien dagegen nur in sehr kleiner Auflage. Dies erklärt, weshalb nur drei Exemplare überliefert sind. Eines dieser Exemplare befindet sich heute im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz; wegen einer Notiz im Marginalbereich des oberen rechten Randes ist es zugleich das berühmteste. Dort ist notiert: „Anno 1517 ultimo Octobris vigiliej Omnium sanctorum indulgentiej primum inpugnatej“ / „Im Jahre 1517, am 31. Oktober, dem Vorabend von Allerheiligen, als der Ablass zum ersten Mal bekämpft wurde“. Lange Jahre schrieb man diese Notiz Luther selbst zu (3), doch ein neues paläographisches Gutachten identifiziert dessen Erfurter Ordensbruder Johannes Lang (um 1487–1548), dem Luther die 95 Thesen am 11. November 1517 zuschickte (4), als Schreiber (5). Dies würde die These unterstützen, dass Thanner den Urdruck der Thesen anfertigte.
Das Haus Brandenburg war in die Entstehung und Verbreitung der 95 Thesen von Anfang an verstrickt. Kardinal Albrechts kometenhafte Karriere konnte nur durch erhebliche Investitionen bewerkstelligt werden; zur Abtragung des Schuldenbergs sollte eine Beteiligung am Vertrieb des Peterskirchen-Ablasses entscheidend beitragen. Dieser Ablass war es, der Luther dazu veranlasste, Thesen gegen den Ablasshandel zu Papier zu bringen. Kardinal Albrecht war neben dem Bischof von Brandenburg an der Havel daher eine der beiden Personen, denen Luther seine Thesen zuerst zuschickte (3). Erhalten ist jedoch nur das Schreiben an den Magdeburger Erzbischof, Kardinal Albrecht, nicht die Beilage. Es ist datiert „Ex Wittemberga, in vigilia omnium Sanctorum“ (6), was der Formulierung der Notiz auf dem Berliner Exemplar von Thanners Thesendruck recht nahe kommt.
Während die Schreiberhand auf Thanners Thesendruck das Interesse der Forschung auf sich zog, wurde dessen Inhalt bzw. die Motivation, ein bestimmtes Datum festzuhalten, nicht hinterfragt. So geläufig uns der 31. Oktober heute als ‚Reformationstag’ ist, so wenig bekannt war er in den ersten Jahren und Jahrzehnten nach 1517. Erst mit dem zweiten Band der Werkausgabe von Luthers Schriften, welcher 1546 bei Hans Luft (1495–1584) in Wittenberg erschien, wurde das Datum allgemein bekannt gemacht und im Thesenanschlag ereignishaft verdichtet: „pridie festi omnium Sanctorum 1517“ wurden die Thesen an der Wittenberger Kirchentür angeschlagen, wie Melanchthon (1497–1568) in seiner biographischen Vorrede zu diesem Band schrieb (7). Diese Datierung verlagerte den ‚Thesenanschlag’ vom Vorabend (vigilia) auf den Vortag (pridie) des Allerheiligentages 1517. Dies machte durchaus einen Unterschied, denn die vigilia zählte dem liturgischen Verständnis entsprechend bereits zum Folgetag. Damit wurde der Reformationsbeginn vom Allerheiligentag (1. November), einem der traditionell höchsten Feiertage des Kirchenjahres, welcher mit Ablässen und Reliquienschau begangen wurde, auf den (konfessionell) unverdächtigen 31. Oktober verlagert. Das Interesse der Wittenberger Editoren ist aber auch noch über eine zweite Quelle belegt. Herausgeber von Luthers Werkausgaben waren Georg Rörer (1492–1557) und Caspar Cruciger (1504–1548), die 1537 mit der Arbeit daran begonnen hatten, und zwar im Auftrag des sächsischen Kurfürsten Johann Friedrich I. (reg. 1532–1547). Es war Rörer, der wohl bereits 1544 das Datum in einem Druck von Luthers Neuem Testament Deutsch notierte: „in profest omnium Sanctorum“ steht dort in Rörers Handschrift zu lesen (8).
Mit der zeitlichen Fixierung des ‚Thesenanschlags’ leiteten die Wittenberger Gelehrten die Historisierung der zu diesem Zeitpunkt bereits einige Jahre zurückliegenden Frühreformation ein. Was bislang in überwiegend lokalen Zusammenhängen mündlich und nur gelegentlich schriftlich tradiert wurde, wurde erst jetzt durch den Druck für Zeitgenossen und Nachwelt verfügbar gemacht. Dass Luther selbst die Erinnerung an den Beginn seines Kampfes innerhalb der Papstkirche wachhielt und die Thesen gegen den Ablass an deren Anfang stellte, geht aus einem Schreiben an seinen Freund Nikolaus von Amsdorf (1483–1565) hervor; dieses datierte er nämlich: „Wittembergae die Omnium Sanctorum, anno decimo Indulgentiarum conculcatarum, quarum memoria hac hora bibimus utrinque consolati, 1527“ / „Wittenberg, am Tage Allerheiligen, im zehnten Jahre der niedergetretenen Ablässe, auf deren Andenken wir in dieser Stunde beiderseits beruhigt anstoßen, 1527“ (9). In diesem Zusammenhang ist auch an das Jahr 1521 zu erinnern, als – während Luthers ‚Gefangenschaft’ auf der Wartburg – in der Stadt Wittenberg Unruhen ausbrachen. Am 1. November 1521 wurde in der dortigen Stadtkirche erstmals öffentlich das Abendmahl mit Laienkelch gereicht, nachdem Justus Jonas (1493–1555) am Vortag in der Schlosskirche gegen die Ablässe gepredigt hatte (10). Dies alles spricht dafür, dass der 31. Oktober bzw. 1. November 1517 bereits von der ersten Wittenberger Reformatoren-Generation zu einem lutherischen Gedenktag aufgebaut wurde.
Neben der handschriftlich vermerkten Datierung des Kampfes gegen das Ablasswesen weist der Thesendruck des GStA PK jedoch noch eine andere Besonderheit auf, die in der Forschung bislang keinerlei Beachtung gefunden hat: Das Exemplar ist nämlich bereits seit dem späten 17. Jahrhundert in den Beständen des kurfürstlichen Archivs nachweisbar. Wann es jedoch dorthin gelangte, ist bislang ungeklärt. Unwahrscheinlich erscheint, dass der Druck aus dem Besitz Johannes Langs an die Hohenzollern gelangte; Kontakte zwischen diesem und dem brandenburgischen Herrscherhaus ließen sich bislang jedenfalls nicht nachweisen. Zudem ist auch Lang als Zwischenglied in der Besitzkette bislang nur eine Hypothese, der paläographische Befund hierfür lediglich ein Indiz, aber keinesfalls ein untrüglicher Beweis.
Geht man davon aus, dass mit Thanners Ausgabe der Urdruck der Thesen vorliegt, so könnte es sich bei dem Berliner Exemplar genauso gut um jenes handeln, welches Luther am 31. Oktober 1517 Kardinal Albrecht zuschickte. Die Suche nach dem Schreiber der Notiz bzw. des Vermerks würde dann in die erzbischöflich-magdeburgische Kanzlei führen. Wirft man einen Blick in die ältesten Repertorien des Geheimen Staatsarchivs, so eröffnet sich Raum für weitere Überlegungen: Überliefert wurde der Thesendruck ursprünglich innerhalb der Registratur des Geheimen Rats im 4. Konvolut der Repositur 13, und zwar zusammen mit einigen anderen Schriften: „Publicirte scripta von den pontificiis in p[unct]o controvers[iae] Theolog[icae] Doct[or] Luthers scharfes Proclama wied[er] Cardinal Albertum a[nn]o 1538. It[em] Eju[s] Theses contra Indulgentias Witteberga[m] Anno 1517 affixae“ (11). Von diesen Schriften lässt sich das ‚scharfe Proclama’ mit großer Sicherheit als jenes Plakat identifizieren, in dem Luther Kardinal Albrecht 1538 als „Scheißbischof“ beschimpfte. Von diesem Plakat erhielt Kurfürst Joachim II. von Brandenburg 1538 aus unbekannter Quelle mehrere Exemplare, die er an ‚Freunde’ und Verwandte weiterleitete, um mit deren Fürsprache gegen Luther vorzugehen. Das Format von Plakat und Thesendruck sind annähernd gleich. Legt man beide übereinander, so könnte man anhand vorhandener Falzspuren und Einstichlöcher vermuten, dass beide 1538 gemeinsam versendet wurden, wobei als Absender die Magdeburger Kanzlei infrage käme. In diesem Falle bekäme auch der Marginal-Vermerk auf dem Thesendruck einen Sinn: Vor der Versendung könnte ein Magdeburger Kanzlist das Datum von Luthers Begleitschreiben vom 31. Oktober 1517 auf dem Thesendruck notiert haben, was auch die Ähnlichkeiten in der Wortwahl erklären würde; alternativ wäre daran zu denken, dass das Datum auch durch einen brandenburgischen Kanzlisten nach dem Eingang nach Art eines Präsentatums vermerkt worden sein könnte. Der Hof zu Berlin-Cölln hatte an dieser Information ein genuines Interesse, trug sich Kurfürst Joachim II. damals doch selbst mit Plänen für kirchliche Reformen. So war es möglicherweise kein Zufall, dass auch der Kurfürst 1539 den ersten Gottesdienst mit Abendmahl in beiderlei Gestalt an einem 1. November feiern ließ. Zugleich wäre aber auch geklärt, weshalb die von Luther übersandten 95 Thesen in der Magdeburger Kanzlei fehlen. Eine Überprüfung dieser These anhand der Magdeburger und Berliner Überlieferung muss jedoch weiteren Forschungen vorbehalten bleiben.
(1) Erwin Iserloh: Luthers Thesenanschlag. Tatsache oder Legende, in: Trierer Theologische Zeitschrift 70 (1961), S. 303–312.
(2) Martin Treu: Luthers Thesenanschlag. Viel Lärm um Nichts?, in: Martin Luther. Aufbruch in eine neue Welt, hg. vom Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt – Landesmuseum für Vorgeschichte u.a., o.O. 2016, S. 92–97.
(3) Reiner Groß, Manfred Kobuch, Ernst Müller (Hgg.): Martin Luther 1483–1546. Dokumente seines Lebens und Wirkens, Weimar 1983, S. 73f., Nr. 38f.
(4) Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe), Abt. 4: Briefwechsel, 18 Bde, Weimar 1930–1985, hier Bd. 1, S. 122, Nr. 56.
(5) Thomas Kaufmann: Erlöste und Verdammte. Eine Geschichte der Reformation, München 2016, S. 110.
(6) WAB 1 (Anm. 4), S. 108–112, Nr. 48.
(7) M. Luther: Tomvs Secvndvs Omnivum Opervm […], Wittenberg [1546], Praefatio.
(8) zit. nach Treu (Anm. 2), S. 93.
(9) WAB 4 (Anm. 4), S. 25–27, Nr. 275.
(10) Heinz Scheible: Melanchthon. Vermittler der Reformation. Eine Biographie, München 2016, S. 81–83.
(11) GStA PK, Altfindmittel, G 1.3.