1801 - Kleist in Paris
1801 - Kleist in Paris
Nach dem Abbruch des Studiums an der Universität Viadrina, dem Weggang aus seiner Geburtsstadt Frankfurt an der Oder und dem Versuch, sich auf ein Amt im preußischen Beamtenapparat vorzubereiten, unternimmt Kleist eine erste große Reise über Dresden und verschiedene kürzere Stationen nach Paris.
Auf der Kutschfahrt in die französische Metropole wird Kleist von seiner (Halb-)Schwester Ulrike von Kleist begleitet. Zu ihr hat er zeit seines Lebens ein enges, aber nicht immer unbelastetes Verhältnis.
Ulrike von Kleist war drei Jahre älter als ihr Bruder Heinrich und seine enge Vertraute sowie – auch finanzielle – Unterstützerin. Die weltweit überlieferte Korrespondenz bildet in einem Zeitraum von 16 ½ Jahren die Entwicklung ihrer Beziehung deutlich ab. In den frühen Briefen überwiegt der belehrende und erzieherische Duktus, in späteren Briefen tritt Ulrike von Kleist deutlich als ebenbürtige Partnerin hervor. Seinen letzten Brief richtete der Dichter am 21. November 1811 an sie. Ulrike von Kleist verweigerte nach Kleists Tod jede Auskunft über den Dichter, vererbte dennoch die aufbewahrten Briefe an ihre Nichte Friederike von Schönfeldt – mit der Maßgabe, sie nicht zu veröffentlichen.
Aus Paris schreibt Kleist am 28./29. Juli 1801, überfordert und enttäuscht von der riesigen, unpersönlichen Stadt, den so genannten Bekenntnisbrief an Adolphine von Werdeck, eine Freundin der Familie. Er ist entsetzt über die empfundene Kälte in den Beziehungen der Menschen und beklagt die Jagd nach Genuss und Vergnügen. Die Pariser Großstadtwelt mit ihren hohen Häusern, stinkenden Straßen und verschmutzen Gassen ekelt ihn an. Die Einwohner erscheinen ihm als ein Haufen von lauten, hastenden und rücksichtslosen Individuen. Die Entfremdung droht in eine persönliche Krise zu münden. Nur an der ausgestellten Kunst und dem Marmor des Louvre kann er sich „erwärmen“.
Die sechs engbeschriebenen Seiten mit je 45 bis 47 Zeilen verbinden einen poetischen Rückblick auf seine Jugend und ein Resümee seiner Bemühungen um einen gelingenden Lebensplan mit detaillierten Reisebeschreibungen und einem Blick auf seine Schwester Ulrike. Ihre Charakterisierung reiht sich ein in eine von ihm oft geführte Diskussion um typisch männliche und weibliche Eigenschaften: „O es gibt kein Wesen in der Welt, das ich so ehre, wie meine Schwester. Aber welchen Mißgriff hat die Natur begangen, als sie ein Wesen bildete, des weder Mann noch Weib ist, und gleichsam wie eine Amphibie zwischen zwei Gattungen schwankt?“