Das Königreich Westphalen in neuem Licht

News vom 09.01.2020

Wahrgenommene und vertane Chancen – Handelsembargo und neue Märkte

Neue Publikation zum Königreich Westphalen
© Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz / Bildstelle

Mit geschärftem Blick auf den gesamten Wirtschaftraum, mit zahlreichen lokalen Einzelheiten und vor allem mit einer hohen Nachweisdichte, wobei die zahlreichen französischsprachigen Quellentexte durchweg mit einer Übersetzung ins Deutsche dargeboten werden, kann die von Oliver Baustian 2018 an der Juristischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen erarbeitete Dissertation: „Handel und Gewerbe des Königreichs Westphalen im Zeichen des système continental. Wirtschafts- und Zollreform, staatliche Gewerbeförderung und Regulierung der Außenhandelsbeziehungen – 1807-1813“ aufwarten.

Ein Schlaglicht Anfang 1812: Im Königreich Westphalen herrscht eine offen antifranzösische Stimmung. In Paris wird die Lage heruntergespielt. Man vertraut darauf, dass Handelsprivilegien und wirtschaftliche Impulse positive Wirkungen erzeugen und so die allgemeine Zufriedenheit der Bevölkerung heben. Zudem böte die prachtliebende Hofhaltung in Kassel profitable Geschäfte. Mehr als ein Aufstand sei nicht zu befürchten. Doch bereits der kleinste Funke konnte zur Explosion führen. Als Ende Januar 1812 der Braunschweiger Zitronenhändler Claus einen französischen Offizier wegen dessen Verhältnisses mit seiner Ehefrau ermordete, solidarisierte sich die einfache Bevölkerung trotz eindeutiger Beweislage gegen das französische Militär. Es kam zu gewalttätigen Unruhen. Napoleon drohte sogar, Braunschweig zur „offenen Stadt“ zu erklären. Marschall Davout kündigte die Einquartierung von 5.000 Soldaten an. Um dieses Eingreifen und weiteren Schaden abzuwenden, ersetzte König Jérôme den Präfekten durch eine Militärkommission.

Ganz anders lagen die Widerstände des westphälischen Finanzministers und der Präfekten gegen die Rolle Westphalens im Handelskrieg gegen England und gegen Maßnahmen zur Bekämpfung des Schmuggelhandels, als sich z. B. im November 1809 die berechtigte Beschlagnahme englischer Waren in Braunschweig und Umgebung zur „Affäre Mercier“ ausweitete.

Nur wenige Jahre waren dem von Kaiser Napoleon Bonaparte im Zuge seiner europäischen Eroberungen geschaffenen Königreich Westphalen beschieden, das er als „Modellstaat“ seinem jüngsten Bruder Jérôme Bonaparte anvertraute, den wir auch als „König Lustik“ kennen. Das Ende des Königreichs besiegelte Napoleons Niederlage in der Völkerschlacht bei Leipzig. Wohl deshalb blieb es auch nur eine Randerscheinung historischer Betrachtung. Mit seiner Entstehung nach dem Frieden von Tilsit beschäftigten sich noch Historiker der deutschen Kaiserzeit, Rechtshistoriker jedoch allenfalls mit der Einführung des Code Civil (Code Napoléon) und der modifizierten Übernahme der französischen Zivil- und Strafprozessordnung – aber schon gar nicht, von wenigen Einzelaspekten abgesehen, mit Wirtschaftsgesetzgebung, Zoll und Außenhandel. Als Grund wurde die geringe und obendrein besonders schwierige Quellenlage angeführt. Erstaunlicherweise wird auch in der französischen Literatur der Integration Westphalens kaum Raum gegeben.

Der Rechtshistoriker Oliver Baustian schließt diese Forschungslücke. Er untersucht, wie sich die Orientierung am und die Integration in das französische Wirtschaftssystem – das système continental – gestaltete, welche handelspolitischen Phasen Westphalen durchlief, welche innerwestphälischen Chancen und Widerstände das Kontinentalsystem, die Douanenlinien, die Zollreformen, die Embargopolitik und der kontinentale Handelskrieg gegen England hervorriefen und welche Dynamik und Wandlungen das système selbst entwickelte. Der Verfasser hat sich der Mühe unterzogen, die disparate Quellenlage zum Königreich Westphalen zu sichten und aufzuarbeiten. Seine Forschungen gründen auf den in französischen und deutschen Archiven verwahrten Dokumenten westphälischer und französischer Minister, der Präfekturen und Mairien sowie auf den Berichten des französischen Botschafters in Kassel und des westphälischen Botschafters in Paris.

Einen ganz besonderen Quellenschatz bilden die Departement-übergreifenden ministeriellen Akten des Königreichs Westphalen, die 1813 in dessen ehemaliger Hauptstadt Kassel verblieben waren, dann 1866 mit der preußischen Annexion des Kurfürstentums Hessen-Kassel in das Geheime Staatsarchiv nach Berlin gelangten. Hier befinden sich auch Unterlagen ehemaliger preußischer Gebiete im Elbe- und Saaledepartement. Umfangreiches Quellenmaterial zu weiteren Departements des Königreichs Westphalen konnte in den Niedersächsischen Landesarchivstandorten Hannover und Wolfenbüttel, im Stadtarchiv Braunschweig und im Staatsarchiv Marburg ausgewertet werden. In den Archives Nationales in Paris galt es die einschlägigen Archive bzw. Bestände zur Handels- und Zollpolitik sowie wirtschaftspolitische Spezialüberlieferungen zu sichten. Diplomatisches Schriftgut verwahrt das Archiv des Ministère des Affaires Étrangères in La Courneuve. Hinzu kommen die großen französischen Quelleneditionen.

Auf dieser, wesentlich umfangreicheren als bislang behaupteten Quellenbasis kommt Oliver Baustian sowohl in der Faktenermittlung wie auch in der Wertung zu eigenständigen Ergebnissen, und es gelingt ihm, die bisherigen pauschalen und vielfach negativen Einschätzungen stark zu modifizieren und zu nuancieren, woraus sich ein facettenreiches und differenziertes Bild großer Möglichkeiten, aber auch verpasster Chancen ergibt. Die neue Gewerbefreiheit und das Lizenzsystem boten dynamische Wirtschaftsentwicklungen und neue Unternehmenstypen, sofern nicht Innovation, Risikobereitschaft oder Förderung fehlten. Die begünstigenden dynamischen Aspekte der neuen Wirtschaftsordnung wurden allzu oft von den handelnden Personen vertan. Die innovativen aber auch halbherzigen Zollreformen wurden zögerlich und unzureichend, inkonsequent oder gar verweigernd umgesetzt. Die Westphalen von Frankreich zugebilligten und hier erstmals herausgearbeiteten Handelsprivilegien, die Seehandelslizenzen und die Zollorganisation in den hansischen Departements bewirkten nach anfänglichem Stillstand eine zunehmende Integration in das sich unter wandelnden politischen Anforderungen entwickelnde Kontinentalsystem. Denn tatsächlich ignorierte Napoleon keineswegs die wirtschaftlichen Interessen seiner Verbündeten, doch der durchaus immer wieder sichtbar werdende mangelnde Integrationswille in das Kontinentalsystem führte dazu, dass der Modellstaat nicht der erhoffte zuverlässige und effiziente Partner bei der Errichtung und zum Schutz der neuen kontinentalen Wirtschaftsordnung wurde. Ein Blick auf die Entwicklung nach der Integration in die Nachfolgestaaten rundet die Arbeit ab.

Das Geheime Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz freut sich, dass Oliver Baustians Arbeit in seiner Schriftenreihe „Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz – Forschungen Band 16“ erscheint, die vom Verlag Duncker & Humblot GmbH Berlin verlegt wird.